Eine ungewöhnliche Familie

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 Eine ungewöhnliche Familie

Überblick

Ein zufälliges Treffen zwischen einer Frau mittleren Alters, einem Witwer und einer Halbwaise in der Stadt Zürich bringt drei Menschen zusammen, die mit einer Vergangenheit von Verlust und Verrat kämpfen. Die sechsjährige Karla, deren Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, kann den Verlust nur schwer akzeptieren. Anna, ihre Tante und Betreuerin, ringt mit dem Verrat ihres früheren Ehemanns und dem Misstrauen gegenüber Männern und der Maler, Jonas, trauert seiner verstorbenen Frau nach.

Anna und Jonas versuchen der talentierten aber leidenden Karla zu helfen. Dabei entwickeln sie mehr als rein freundschaftliche Gefühle füreinander. Die wachsende Liebe droht jedoch im Keim zu ersticken, als Anna ein finsteres Geheimnis in Jonas’ Vergangenheit entdeckt. Während die zwei Erwachsenen mit ihrer Beziehung in eine Sackgasse geraten sind, nimmt die junge Karla die Sache in die eigenen Hände. Zusammen mit einer Freundin entwickelt sie einen Plan, mit dem sie die zwei unkooperativen Erwachsenen wieder zusammenbringen will. Der Plan verursacht jedoch ein heilloses Durcheinander und als er zu scheitern beginnt, ist Karla gezwungen, wichtige Lehren daraus zu ziehen. Eine ungewöhnliche Familie ist eine Geschichte über Verlust, Lügen und Verrat, aber auch über die heilende Kraft der Liebe und der Verzeihung. Sie spielt sich in der Schweiz, in der Stadt New York und in Guadalajara, Mexiko ab.

Eine ungewöhnliche Familie

Leseprobe 

 Kapitel 1

Karla fuhr mit der Zunge über die knusprige Eiswaffel und versuchte, die Tropfen aufzufangen, ehe sie zu Boden fielen. Das Brombeereis war ein dunkles Purpurrot, Karlas Lieblingsfarbe. Sie rümpfte die Nase, als sie die Abgase der verkehrsreichen Straße in Zürich entlang der Limmat einatmete. Es war ein heißer Augusttag in der Schweiz, schwül und drückend. Das sechsjährige Mädchen betrachtete die Gegend mit verträumten Augen.

Auf dem Fluss glitt ein Kanu an einem Touristenboot vorbei. Menschen mit drolligen Hüten und Sonnenbrillen saßen auf den Bänken des Boots. Die aneinander gebauten Häuser am gegenüberliegenden Flussufer sahen aus wie eine Reihe ungleichmäßiger, verschiedenfarbiger Zähne – grau, gelb, weiß und einige mit einem orangenfarbigen Hauch. Auf dem Hügel hinter den Häusern schimmerten die hellgrünen Blätter der Lindenbäume im Park und ein Vorhang aus sattgrünem Efeu verbarg einen Teil der grauen Granitmauer.

Karla schleckte weiter an ihrem Eis, drehte sich dann um und spähte durch das Fenster der Kunsthandlung, in der ihre Tante gerade zwei gerahmte Zeichnungen abholte. Als sie sich wieder in Richtung Gehsteig umdrehte, stockte ihr der Atem.

„Mama?“, flüsterte sie.

Sie sah die Frau nur von hinten, aber ihr beschwingter Schritt, die langen, rotblonden Haare, die den Rücken hinunterflossen und hin und her flatterten, die große, schlanke Figur – es musste ihre Mutter sein. Sie warf den Rest des Eises weg und rannte der Frau nach.

„Mama!“ rief sie, als die Frau dabei war, die Straße zu überqueren. Die Fußgängerampel wechselte auf Rot, als die Frau auf der anderen Seite ankam. Karla eilte ihr nach und achtete kaum auf das Hupen der Autos und das schrille Läuten der blauweißen Straßenbahn. Sie hörte, wie jemand sie anschrie. Als sie die andere Straßenseite erreichte, schritt die Frau den Fluss entlang in Richtung Zürichsee.

„Warte, Mama!“ Karla stieß jemanden an.

Ein Mann trat zur Seite. „Pass auf, Mädchen.“

„Mama . . .“

Schließlich drehte sich die Frau um, ließ ihren Blick über die Leute hinter sich schweifen und setzte ihren Weg fort. Karla hielt wie vor den Kopf gestoßen an. Es war das Gesicht einer Fremden.

Eine Welle der Verzweiflung überflutete Karla. Sie wollte nicht glauben, dass sie sich so geirrt hatte und fing erneut zu rennen an. Sie sah die leichte Wölbung im Belag des Gehsteigs nicht. Als sie hinfiel, bemerkte sie kaum, dass sie sich ihre Knie aufschürfte; die Enttäuschung schmerzte mehr. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Mama hätte ihr geholfen. Mama hätte sie aufgehoben, umarmt und sogar ein Lied gesungen, um sie zu trösten. Aber ihre Mutter war nicht mehr da.

„Hast du dir weh getan, Kleines?“, fragte eine dunkle Stimme. Karla spürte eine Hand auf dem Rücken. „Komm, lass mal sehen.“

Starke Hände hoben sie hoch. Sie schaute in ein Gesicht mit einem grauweißen Bart und liebevollen, blauen Augen unter buschigen Augenbrauen. Der Mann war groß und kräftig mit zerzaustem, weißem Haar. Er erinnerte sie an Sankt Nikolaus. Aber es war Sommer und der Nikolaus kam nur im Winter.

„Bist du alleine hier?“, fragte er. „Wo ist deine Mutter?“

Die Frage verursachte eine neue Tränenflut. „Ich dachte, es sei Mama“, stieß Karla schluchzend hervor.

„Karla, was ist geschehen? Warum bist du weggelaufen?“ Tante Anna eilte auf sie zu, ihre Handtasche und ein großes Paket unter den Arm geklemmt. „Ich dachte schon, ich hätte dich verloren. Um Gotteswillen, was ist mit deinen Knien passiert?“ Sie beugte sich nieder, legte das Paket auf den Gehsteig und untersuchte Karlas Beine. Sie wischte eine Strähne ihres gewellten braunen Haars aus dem Gesicht und starrte den Mann mit graublauen Augen an. „Was geht hier vor?“

„Ich bin zufällig vorbeigekommen, als sie hinfiel“, erklärte der Mann. „Sie sagte, sie suche ihre Mutter. Sind Sie die Mutter?“

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin ihre Tante. Ihre Mutter … ist vor einem halben Jahr gestorben.“

„Das tut mir leid.“ Der alte Mann berührte sanft Karlas Wange. „Aber sie glaubte, sie habe ihre Mutter gesehen.“

Anna seufzte. „Sie hat die Wahrheit noch nicht richtig akzeptiert.“ Sie wandte sich Karla zu. „Sag mir, was geschehen ist, mein Schatz.“

Karla erzählte ihr schluchzend, dass die Frau, die an ihr vorbeigegangen war, genau wie ihre Mama ausgesehen hatte.

„Aber du weißt doch, dass das nicht möglich ist, nicht wahr?“ Tante Anna umarmte sie. Karla legte ihr Gesicht an Annas Brust und goss ihren Schmerz in Annas Pullover. Er war weich, aber roch nicht wie der ihrer Mama. Anna wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. „Wir müssen etwas für deine Knie tun.“

„Dort drüben ist eine Apotheke. Die haben sicher etwas zum Reinigen und Verbinden. Darf ich?“ Sankt Nikolaus schaute Anna fragend an.

Anna nickte und der Mann hob Karla hoch. Sein dickes Haar kitzelte ihre Wange. Karla rümpfte die Nase. Er roch etwas nach Rauch, was sie an Annas Holzofen erinnerte. Der Geruch wirkte beruhigend.

In der Apotheke wurde Karla von einer freundlichen Frau versorgt. Sie reinigte die Wunden sorgfältig, um ihr nicht weh zu tun. Karla zuckte hie und da zusammen und schluchzte leicht. „Es tut mir leid, Kleines, aber wir wollen verhindern, dass es eine Entzündung gibt.“

Während die Frau Karlas Knie verband, öffnete Tante Anna das Paket, das sie mit sich trug. Sie gab Karla eines der Bilder und hielt das andere hoch. „Sind sie nicht schön?“

Karla nickte mit einem schwachen Lächeln. Sie erkannte die Zeichnungen kaum mehr hinter Glas und von einem feinen hölzernen Rahmen umgeben. Auf einem der Bilder war eine Frau zu sehen, die auf einem Stuhl saß und ein kleines Mädchen auf dem Schoß hielt. Die Frau hatte langes rotblondes Haar und die Haare des Mädchens waren schwarz. Sie saßen vor einem Haus. Die Steine in der Hauswand hatten eine unregelmäßige Form und erinnerten an Pflaster- oder Natursteine. Karla hatte etwas Mühe gehabt, sie so zu zeichnen, dass sie echt aussahen. Das andere Bild zeigte einen Baum mit großen rosaroten und cremefarbenen Blüten. Es war der blühende Kastanienbaum vor Karlas früherem Zuhause. Sie hatte die Bilder mit ihren geliebten Pastellstiften gemalt.

„Sie sind wunderschön“, sagte Sankt Nikolaus mit seiner tiefen Stimme. „Wer hat sie gemalt?“

„Karla“, sagte Tante Anna.

Sankt Nikolaus schaute Anna und Karla mit großen Augen an. „Wie alt ist sie?“

„Sechs“, sagte Karla und wischte sich die letzten Tränen vom Gesicht. Anna gab ihr ein Papiertaschentuch.

„Und sie hat diese Bilder ohne Hilfe selbst gemalt?“ Der Mann kniff die Augen zusammen, als er die Bilder betrachtete. Die Falten auf seiner Stirne und um die Augen herum vertieften sich. Er sah wirklich wie Sankt Nikolaus aus.

„Ja“, sagte Tante Anna.

„Dieses Kind ist sehr begabt. Erhält es irgendwelchen Unterricht?“

„Ich suche tatsächlich nach einem Lehrer für sie. Sie liebt Zeichnen und Malen. Wenn es nach ihr ginge, würde sie es den ganzen Tag über tun. Und es scheint ihr zu helfen … den Verlust etwas zu vergessen.“

„Erstaunlich.” Sankt Nikolaus schüttelte den Kopf und betrachtete die Bilder weiterhin. „Nun, ich bin zufällig selbst Maler. Und ich unterrichte auch einige Kinder.“ Er schaute Karla und Anna mit ernstem Blick an. „Ich würde sie gerne als Schülerin haben.“

„Ich werde es mir überlegen. Das wäre großartig“, sagte Tante Anna.

„Erkundigen Sie sich ruhig über mich.“ Der Mann zog seine Brieftasche hervor, öffnete sie und nahm ein graues Kärtchen heraus. „Hier sind meine Adresse und Telefonnummer und auf der Rückseite einige Referenzen.“ Er gab Anna die Karte. „Was immer auch Ihre Entscheidung ist, Sie sollten ein solches Talent keinesfalls verkümmern lassen.“

Tante Anna betrachtete die Karte genau. „Sehr interessant, Herr Bergman.“

„Nennen Sie mich Jonas“, sagte der Mann.

„Anna”, sagte Karlas Tante, als die beiden sich die Hände gaben.

„Du bist … Sie sind nicht Sankt Nikolaus?” fragte Karla überrascht.

Tante Anna und der Mann lachten. „Nein, tut mir leid. Sehe ich ihm ähnlich?“ Er strich sich durch sein gewelltes weißes Haar.

Karla nickte. „Aber Sie würden nicht im Sommer kommen, nicht wahr?“ Sie schaute auf ihre sorgsam verbundenen Beine nieder. Das Gespräch über Zeichnen und Malen hatte sie ihren tiefen Kummer etwas vergessen lassen. „Werden Sie mich malen lehren?“

Der Mann lächelte. „Besprich das mit deiner Tante. Okay? Und du darfst ‚du‘ zu mir sagen.“ Dann schaute er auf seine Uhr. “Hoppla. Nun habe ich wohl meinen Termin verpasst.”

„Es tut mir wirklich leid“, sagte Anna. „Nun haben wir dir auch noch Umstände gemacht.“

„Macht euch keine Sorgen.“ Er beugte sich zu Karla nieder. „Karla, ich weiß wie weh es tut. Ich habe meine geliebte Frau vor ein paar Jahren verloren. Wir waren über zwanzig Jahre zusammen. Ich vermisse sie noch immer. Aber ich kann dir versprechen, es wird etwas leichter mit der Zeit.“

Karla atmete tief ein und nickte. Sie hatte die Worte schon oft gehört. „Maja hat ihre Mutter auch verloren.“

„Maja ist eine Freundin von Karla, ein Mädchen aus Kroatien“, erklärte Anna. „Ihre Mutter ist im Krieg umgekommen.“

 

Zu Hause in dem kleinen Dorf in der Nähe von Zürich bereitete Anna das Mittagessen vor. Sie wärmte etwas Bohnen- und Gemüsesuppe auf und machte Käsetoasts mit Tomaten. Der Geruch des Essens weckte Karlas Appetit. Sie war etwas nachdenklich, aber nicht länger verzweifelt.

„Der Mann war lieb“, sagte sie, als sie die farbenfrohen Papierservietten faltete, die sie mit einem Kartoffelstempel selbst gemacht hatte. Sie legte sie auf die blauweißen Tischsets auf dem Eichentisch in der Küche.

„Möchtest du Zeichen- und Malunterricht bei ihm nehmen?“ Anna goss die Suppe in Suppenschalen und schob die getoasteten Sandwiche auf die Teller.

Karla nickte. „Ja, das wäre cool.“ Sie lächelte und zeichnete mit dem Finger das Muster aus Licht und Schatten nach, das die Sonne zwischen den Blättern des Magnolienbaums hindurch auf den Tisch geworfen hatte.

„Cool?“ Anna lächelte und drückte Karla an sich.sich.

Kapitel 2

Es war ruhig geworden. Nur das Zirpen der Grillen und der gelegentliche Ruf einer Eule im Wald in der Nähe von Annas Haus durchbrachen die Stille. Die Luft war noch warm nach dem heißen Sommertag. Anna öffnete alle Fenster und hoffte auf eine kühle Brise. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer in einem Land, das nicht gerade für seine Hitzewellen bekannt war. Der kräftige Geruch des Basilikums zwischen den Tomatenpflanzen erinnerte Anna an ihre Gartenarbeiten, die sie der Hitze wegen immer wieder aufgeschoben hatte.

Nach dem turbulenten Tag in der Stadt war Karla endlich eingeschlafen. Anna saß auf der Bank vor dem Haus und beobachtete, wie sich die Dunkelheit auf die Bäume und Wiesen senkte und die letzten Flecken Purpur und Violett am Horizont verwischte.

Ein lauter Schrei gefolgt von Weinen unterbrach den friedlichen Abend. Karla wurde wieder von ihren Alpträumen geplagt. Anna sprang hoch und eilte in das Kinderzimmer. Karla saß aufrecht im Bett mit weit geöffneten Augen und zitterte trotz der Wärme.

„Wach auf, Karla. Es ist nur ein Traum.“ Anna setzte sich aufs Bett und umarmte das Kind.

„Mama?“

Anna sah, wie der Traum verebbte. Ein Hoffnungsschimmer zeigte sich auf Karlas verwirrtem und angsterfülltem Gesicht, der sich dann in Traurigkeit verwandelte. Anna drückte das zitternde und schluchzende Kind an sich. „Nur ein böser Traum, Liebes. Ich bin hier; es ist alles gut.“

Nachdem Karla wieder eingeschlafen war, ging Anna auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und ließ die Tür offen. Es war der erste Alptraum seit langem, womöglich durch Karlas Erlebnis in der Stadt ausgelöst, als sie glaubte, ihre Mutter gesehen zu haben.

In der ersten Zeit nach dem Unfall litt Karla beinahe jede Nacht unter Alpträumen. Es war immer dasselbe – Schreien und verzweifeltes Weinen. Wenn Anna sie weckte, war Karla verwirrt. Sie sprach von Feuer, Flammen, roter Farbe, von der Anna annahm, dass es Blut war. Am folgenden Morgen konnte sich Karla kaum an den Traum erinnern. Sie erinnerte sich auch nicht an den eigentlichen Unfall.

Anna setzte sich ins Wohnzimmer und blickte zum Fenster hinaus. Die Nacht hatte die letzten Farbflecke verschluckt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. An Tagen wie diesem wurden der Schmerz über den Verlust und ihre Zweifel wieder lebendig. Sie würde den schrecklichen Tag vor einem halben Jahr nie vergessen. Sie hörte noch immer die ernste Stimme des Polizisten, der ihr mitteilte, dass ihre Mutter und Schwester bei einem frontalen Zusammenstoß mit einem betrunkenen Fahrer ums Leben gekommen waren. Es wurde ihr gesagt, dass sich ein Kind im Kindersitz auf dem Rücksitz befand. Das Kind habe einen Schock erlitten, sei jedoch unverletzt. Anna musste die beiden Frauen identifizieren. Tage- und nächtelang danach sah sie die geschundenen Körper auf den Tragbaren liegen und das blasse Gesicht ihrer kleinen Nichte, deren sonst so lebhafte, dunkle Augen nun mit einem leeren Blick ins Nichts starrten.

Von einem Tag auf den anderen wurde die alleinstehende und kinderlose Anna zum Vormund ihrer Nichte. Sie war die einzige nahe Verwandte, die in der Nähe wohnte. Laura, ihre jüngere Schwester, war alleinerziehende Mutter gewesen. Karlas Vater lebte in Peru. Mit dem Tod ihrer Mutter und Schwester hatte Anna die letzten Mitglieder ihrer Familie verloren. Ihr Vater wie auch ihre Großeltern waren seit langem verstorben. Sie hatte noch einen Onkel, der ihr finanzielle Hilfe angeboten hatte, falls es nötig war.

Es war jedoch nicht das Geld, um das sie sich Sorgen machte. Sie war Leiterin der Bibliothek in ihrem Dorf und Eigentümerin des einzigen unabhängigen Buchladens. Der Buchladen brachte zwar nicht sehr viel ein, aber zusammen mit ihrem Gehalt als Bibliothekarin und dem Verdienst als freischaffende Autorin reichte es, sich und Karla zu versorgen. Glücklicherweise war das Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, beinahe abbezahlt.

Nein, es war nicht das Finanzielle, das ihr Sorgen bereitete. Es war die Verantwortung für ihre kleine Nichte, die schwer auf ihr lastete.  Das Herz schmerzte ihr beim Gedanken an den Verlust ihrer Mutter und Schwester.

„Warum? Warum habt ihr mich verlassen? Versteht ihr denn nicht, wie sehr ich euch noch brauche?“, flüsterte Anna mit tränenüberströmtem Gesicht.

 Kapitel 3

Jonas Bergman stellte die Einkaufstüten auf den Boden des alten Fahrstuhls ab, der im vierstöckigen Gebäude langsam nach oben rumpelte. Die offene Kabine des Aufzugs war von kreuzweise angeordneten Eisenstangen umgeben. Jonas wohnte in einem der mittelalterlichen Steinhäuser im Niederdorf, einem Teil der Zürcher Altstadt auf der östlichen Seite des Flusses Limmat.

Im vierten Stock hielt der Fahrstuhl knarrend an und Jonas trat auf den Flur. Irgendwann werde ich in diesem Ding steckenbleiben, dachte er und warf dem alten aber bis anhin zuverlässigen Aufzug einen misstrauischen Blick zu. Er nahm den Fahrstuhl nur, wenn er schwere Dinge zu tragen hatte. Er langte in seine Hosentasche und suchte nach seinen Schlüsseln. „Verdammt nochmal“, murrte er, als er sie fallen ließ. Die Schlüssel klirrten auf dem Hartholzboden.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Jonas wandte sich um. Eine kräftige ältere Frau mit grauem Kraushaar trat aus der benachbarten Wohnung. Sie beugte sich nieder und hob die Schlüssel auf.

„Machen Sie sich keine Mühe, Frau Schatz. Vielen Dank und entschuldigen Sie meine Sprache.“ Jonas schaute zu, wie seine Nachbarin den Schlüssel in das Schlüsselloch steckte.

„Schon in Ordnung, ich habe schon Schlimmeres gehört.“ Frau Schatz lachte leise. Sie schaute ihn aufmerksam an und zeigte auf die Einkaufstüten. „Sie waren anscheinend auf dem Markt. Gut. Sie essen wieder anständig.“

„Ja, Frau Schatz, ich habe mir Ihren Rat zu Herzen genommen“, sagte Jonas. Er hielt eine der Tüten in der Hand und versuchte, die andere hochzuheben. Seine Nachbarin nahm ihm die zweite Tüte ab und folgte ihm in die Wohnung.

„Vielen Dank“, sagte Jonas. „Was würde ich ohne Sie machen?“ Er zwinkerte ihr zu.

„Ich hab’s Ihnen doch schon oft gesagt. Was Sie brauchen, ist eine Frau.“

Seine Nachbarin versuchte ihn schon seit einem Jahr mit jemandem zusammenzubringen, jedoch ohne Erfolg. Frau Schatz war verheiratet und glaubte fest, dass ein alleinstehender Mann, vor allem ein Witwer in Jonas‘ Alter, dem Untergang geweiht war.

Nachdem sie die Einkaufstüte auf den Küchentisch gestellt hatte, drehte sie sich zu Jonas um. „Ich habe einige Freundinnen zum Tee eingeladen für morgen Nachmittag. Kommen Sie doch auch.“

Jonas grinste. „Diese Freundinnen sind nicht zufällig ledige oder geschiedene Frauen, mit denen Sie mich verkuppeln möchten?“

„Was soll das heißen? So etwas würde ich nie tun“, protestierte die Frau. „Das sind sehr seriöse Frauen. Manch ein Mann würde sich geehrt und geschmeichelt fühlen, ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“

„Natürlich, Frau Schatz. Verstehen Sie mich nicht falsch.“ Jonas versuchte seine Nachbarin zu beschwichtigen. „Ich habe nur charmante Frauen bei Ihren Teekränzchen angetroffen. Und ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Besorgnis. Nicht die Frauen sind das Problem. Ich bin es.“ Er tätschelte leicht Frau Schatzes Arm. „Wissen Sie, ich bin einfach noch nicht so weit. Ich weiß, dass es dumm ist, aber ich kann mir nicht helfen.“

Frau Schatz schien etwas besänftigt. „Ich will Sie ja nicht zwingen. Aber denken Sie daran“ – sie drohte ihm mit dem Finger – „Sie werden auch nicht jünger.“ Sie musterte ihn von oben bis unten und er zog instinktiv seinen Bauchansatz ein. „Na, bin schon weg. Muss noch backen für morgen.“

Sie schlurfte über den Flur zu ihrer Wohnung. Ihr Hinweis auf das Backen war ein weiterer Versuch, Jonas zu überzeugen. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und ihre Kuchen und Torten waren bei ihren Freunden und Nachbarn bestens bekannt. Ihre gepolsterten Hüften und die Wülste um ihre Taille herum zeugten von ihrer Vorliebe für Süßigkeiten.

An der Tür zu ihrer Wohnung hob sie leicht die Hand. „Sollten Sie es sich anders überlegen, wissen Sie ja, wo wir sind.“

„Vielen Dank, Frau Schatz“, sagte Jonas. „Ich habe ziemlich viel Arbeit. Vielleicht ein anderes Mal.“

Er schloss die Tür und atmete erleichtert auf. In der Küche packte er die Lebensmittel aus. Er versorgte den Salat, die Zucchini, Tomaten, den Basilikum und ein Stück Bergkäse im Kühlschrank. Er hob eine reife Aprikose hoch, atmete ihren süßen Geruch ein, biss hinein und ging ins Wohnzimmer.

Wie üblich wenn er von einer Besorgung oder einem Ausflug zurückkam, blieb er einen Moment vor der Fotografie von Eva, seiner verstorbenen Frau, stehen. Ein schönes Gesicht mit leuchtenden blauen Augen, einer hübschen Stupsnase, und gewellten, schutterlangen blonden Haaren lächelte ihn an. Er lächelte zurück. „Hallo, du“, flüsterte er.

Seine Nachbarin war nicht die einzige Person, die ihn ermutigte, Bekanntschaften mit Frauen zu schließen. Sein Sohn in Dänemark und seine Tochter, die ein Jahr in den USA verbrachte, schnitten das Thema gelegentlich an. „Vati, denk daran, was Mutti vor ihrem Tod gesagt hat. Du sollst ihr nicht nachtrauern. Du sollst leben und eine andere Frau kennen lernen.“

Er berührte sanft den Fotorahmen. Es gibt keine andere Frau. Du bist die Einzige.

Er zog eine Flasche aus dem Getränkeschrank und goss sich einen Schluck Whiskey ein, ging in die Küche und fügte dem Glas einige Eiswürfel hinzu. Er schwenkte das Glas leicht und schaute zu, wie sich das glitzernde Eis mit der goldenen Flüssigkeit vermischte. Im Wohnzimmer öffnete er die Fenster sowie die Türe, die auf eine kleine Dachterrasse hinausführte.

Jonas‘ Dachwohnung war hell und luftig und geschmackvoll eingerichtet. Seine dänische Herkunft war in der sauberen Eleganz und den hellen Farben des Sofas, der Vorhänge und den einfachen Holzmöbeln zu sehen. An den Wänden hingen einige seiner Gemälde.

Gegen Süden bot sich ihm eine Aussicht auf einen kleinen Teil des Flusses und des Zürichsees. Auf der gegenüberliegenden Seite der Limmat stand das Fraumünster mit seinen fünf bunten Kirchenfenstern von Marc Chagall. Bei klarem Wetter konnte Jonas die Berge in der Ferne sehen.

Es war noch immer warm nach einem heißen Sommertag. Die Sonne glitt hinter den Häusern langsam gegen den See hinunter und überzog die Gebäude mit einem goldenen Glanz. Der Streifen des Sees, den Jonas von seiner Wohnung aus sah, glitzerte im letzten Licht des Abends. Jonas dachte an das kleine Mädchen und seine Tante. Er erinnerte sich mit einem Seufzer an die Trauer in den Augen des Kindes. Er konnte ihm die Verzweiflung gut nachfühlen.

Jonas liebte Kinder und nun, da seine eigenen erwachsen waren und seine Großkinder in Dänemark lebten, begnügte er sich mit den Kindern, die er malen und zeichnen lehrte. Er unterrichtete gerne. Es schätzte es, gebraucht zu werden, und die Gesellschaft seiner Schüler vertrieb die Einsamkeit für einige Stunden.

Der Gedanke, Karla zu unterrichten, begeisterte ihn jedoch aus einem anderen Grund. Die beiden Bilder, die er gesehen hatte, zeugten von einem ungewöhnlichen Talent. Die Zeichnungen waren natürlich noch einfach und ungeschliffen. Fertigkeit ließ sich jedoch lernen. Wichtiger waren hingegen die Leidenschaft und der persönliche Ausdruck, die er entdeckt hatte und die bei einem so jungen Kind selten derart ausgeprägt waren.

Was Karla jetzt brauchte, war der Wille zu lernen und zu üben, und Jonas glaubte, dass sie dies hatte. Er hatte es in ihren Augen gesehen, als sie ihn fragte, ob er ihr Unterricht geben werde. Wie weit die Ausdauer reichte, das war eine andere Frage. Kinder änderten sich und entwickelten andere Interessen, wenn sie älter wurden. Er hatte dies häufig beobachtet, auch bei seinen eigenen Kindern. Er erinnerte sich an die jahrelangen Klavier- und Geigenstunden und gerade als sie ein gewisses Können entwickelt hatten, waren sie plötzlich mehr an Videogames und am Ausgehen interessiert.

Jonas hob seine Pfeife auf, stopfte sie und zündete sie an. Er schloss die Augen genießerisch und erfreute sich am würzigen Geschmack. Er hatte das Zigarettenrauchen vor Jahren aufgegeben, aber erlaubte sich die gelegentliche Pfeife. Er trat auf die Dachterrasse hinaus und schaute zu, wie die letzten goldenen und orangenen Farbtöne, die die untergehende Sonne auf den Horizont malte, langsam in der Dunkelheit verblassten.

Er lächelte. „Na, Karla, was sagst du dazu? Ich glaube, es ist einen Versuch wert.“